"Wenn vom 'gewaltigen Bildreservoir' der Apokalyptik die Rede ist …, so ist hier ebenfalls die Nähe zum Heavy Metal gegeben. In seinen stilbildenden Formen steht das Genre für eine Ästhetik der Stärke, der Macht, des Pathos, der Theatralik, des Erhabenen, der Übersteigerung und des Bilderreichtums. Hinzu kommt eine mal gebrochene, mal ungebrochene Faszination am Mystischen und Mythischen, an Sagen und Legenden, ja allgemein an dem, was die, die doch modern gewesen sind, reflexhaft als 'vormodern' oder 'irrational' bezeichnen würden. Die Analogie zur Ästhetik der Offenbarung ist offensichtlich. Im Vergleich mit den übrigen Schriften des Neuen Testaments, die sich neben denen des Alten Testaments wie religiöser Kuschelrock ausnehmen, könnte man die Offenbarung als sakrales Slayer-Album bezeichnen: dröhnend, bedrohlich, halluzinatorisch, mystisch, aber bis ins Detail durchstrukturiert und durchchoreographiert. Slayer-Album, da genau dieses Spannungsverhältnis auch Heavy Metal auszeichnet: kontrollierter Wahnsinn, reglementierte Ekstase, strategische Esoterik, rationalisierte Mythologie.
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Im Heavy Metal ist der distanzierte, welt-anschauliche Standpunkt des Apokalyptikers und Kulturkritikers allgegenwärtig. Schließlich ist die Apokalyptik für den Heavy Metal nicht nur ein mögliches Feld unter vielen, sondern – historisch betrachtet – prägend für ihn, wie ich am Anfang dieses Textes am Beispiel von genrebegründenden respektive -konsolidierenden Bands wie Black Sabbath, Iron Maiden und Metallica gezeigt habe.[1] Charakteristisch für die Texte und Plattencover der 'klassischen' Spielarten des Heavy Metal (siehe Kapitel 1) sind jene raunenden, bewusst aufs Weltganze zielenden Entfremdungs-, Verfalls- oder Untergangsszenarien, die in apokalyptischen Schriften wie der Offenbarung bereits auf die Spitze getrieben wurden und die auch für die Kulturkritik maßgeblich sind. Die negativen Leitmotive … des klassischen Heavy Metal wie Entfremdung, Tod, Leid, Gewalt, Zerstörung, Apokalypse erreichten ihn dabei einzig in mediatisierter Form. Kriege oder Verfolgung waren den in den befriedeten westlichen Konsumkulturen aufgewachsenen Gründungsvätern des Genres nur aus den Medien oder in der eigenen Alltagswelt allenfalls in homöopathischen Dosen bekannt. Was Tod und Weltuntergang betrifft, handelt es sich ohnehin um Ereignisse, die uns nur als Vorwegnahmen, nicht aber aus dem persönlichen Erleben vertraut sein können. Schon Epikur schrieb mit Blick auf den Tod: 'Das schauerlichste aller Übel, der Tod, hat also keine Bedeutung für uns; denn solange wir da sind, ist der Tod nicht da, wenn aber der Tod da ist, dann sind wir nicht da.'[2] Lässt sich der Tod wenigstens an anderen Menschen mit-erleben, so gilt dies nicht für den alle(s) betreffenden Weltuntergang. Die ontologischen Defizite der Apokalypse werden, zumindest in ihrer westlichen Blaupause, der Offenbarung, durch ästhetischen Überschuss kompensiert. Nichts anderes gilt für den Heavy Metal.
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[1] Auch auf Judas Priests zweitem Album Sad Wings of Destiny (1976) finden sich Anklänge an die Offenbarung, wenn es im Song "Island of Domination" heißt: "Beware of their coming / Take heed our time is near / Fatality relinguish not / Brutality in arms doth seek to destroy / They smashed through the clouds into the light of the moon / Their steeds were full charging, called destruction and doom".
[2] Epikur, "Briefe an Menoikeus", in: ders. Wege zum Glück, hrsg. von Rainer Nickel, Düsseldorf: Artemis & Winkler, 2005, S. 116–123, hier S. 117.