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Die neue Avantgarde – Rückblick auf ein Podium, das nicht stattfand

Veröffentlicht am 18.03.2017

In loser Folge werde ich mir auf meinem Blog Gedanken zu einigen Begriffen machen, die in der Kontroverse um das abgesagte Podium "Die Neue Avantgarde" eine zentrale Rolle spielten. In diesem Beitrag geht es um "Gewalt" und Alain Badious Auftritt im Theater Gessnerallee 2016.

Gewalt

Im Jahr 2016 war der französische Philosoph Alain Badiou zu Gast im Theater Gessnerallee. Sein Verleger Peter Engelmann moderierte den Anlass.

Badiou spricht sich für die Anwendung von (physischer) Gewalt, für die Inkaufnahme von Kollateralschäden an Menschen und Dingen im politischen Kampf sowie für ein messianisches, an den Apostel Paulus angelehntes Führerprinzip aus – für die Durchsetzung des Kommunismus von oben (s. u.a. Das Jahrhundert, 2006 und Paulus, 2002; siehe auch Dirk Pilz' Artikel zum Thema in der Berliner Zeitung vom 4.6.2013). Alles Weiche, Abwägende, Liberale verachtet Badiou. Sein Denken ist totalitär.

Die tageszeitung schrieb 2006 in ihrer Rezension zu Jahrhundert: "Badiou bestreitet weder die extreme Gewaltanwendung der Roten Garden noch die politische Verfolgung insbesondere von Intellektuellen, auch nicht die Hunderttausende von Toten. Sondern er rechtfertigt sie: Schließlich seien alle radikalen Versuche, die herrschende Ordnung umzustürzen, schon immer von Gewalt begleitet worden." Dabei bediene sich Badiou  eines verbrämenden rhetorischen Kunstkniffs, indem er (revolutionäre) Gewalt im Sinne von Nietzsches "Umwertung aller Werte" deute. Äußerste Gewalt sei umkehrbar in den "äußersten Enthusiasmus". Die taz kommt zu dem Schluss: "Mit Badious politischer Philosophie … könnte man wirklich alles begründen, von staatlichen Gewaltexzessen bis zu individualistischem Terror."

Anders als beim unter dem Druck Kulturschaffender abgesagten Podium "Die Neue Avantgarde" regte sich unter diesen kein Protest gegen Badious Auftritt. Man strömte nur so in das Theater Gessnerallee – Badiou will doch das Gute, ja das absolute, das totale Gute: nichts Geringeres als das neue Neue Jerusalem des Kommunismus (siehe hierzu Friedrich Engels Lektüre der Johannesoffenbarung), in welchem alle Widersprüche endlich aufgelöst sind.

Dafür müssen selbstredend Entbehrungen und Opfer in Kauf genommen werden. Manchmal währt die Hiobs-Ära zehn Jahre. Manchmal 100. Manchmal 1000. Aber dann kommt er, der Messias, ganz sicher. Erst wird alles Blut. Dann wird alles gut.

Der an der Eliteuniversität École normale supérieure (Paris) ausgebildete Badiou ist zwar "gegen Gewalt ohne Ideen." Doch die gewaltsamsten und grausamsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte wurden bekanntlich gerade im Namen von Ideen begangen, namentlich derer von Religion, Politik, Wirtschaft. Die Heilsvision einer idealen Welt hat ihren jeweiligen Propheten seit jeher zur Legitimierung heillosester Mittel gedient, ob Inquisition, Gulag, KZ, Autobombe oder Ausbeutung. Wer aber die brennende Stadt mit einer Sturmflut löscht, der zerstört sie gleichwohl.

Als tragfähig und nachhaltig haben sich nicht die großen, eschatologischen, sondern die raffinierten, hybriden, im Dewey'schen Sinne pragmatischen Ansätze erwiesen. Was nicht heißt, dass (militanter) Widerstand nicht auch das Gebot der Stunde sein kann – im deutschen Grundgesetzt ist er in Artikel 20, Abs. 4 sogar explizit legitimiert.

Vergleicht man die aus dem Ruder gelaufene Debatte um die "Neue Avantgarde" mit der Nicht-Debatte um den Auftritt Badious, so stellt man fest: Zwar unterscheiden sich die je involvierten Vertreter von Rechts und Links hinsichtlich ihrer Ziele und Ideale. Jene argumentieren partikularistisch, diese argumentieren universalistisch. Jene meinen, eine gute Gesellschaft lasse sich am besten innerhalb eines begrenzten Kollektivs entwickeln (und ja, sie haben Argumente für ihre Haltung), diese – auch sie keinen Mangel an Argumenten leidend – meinen, gerade die Begrenzung sei das Problem: der (revolutionäre) Fortschritt müsse universell sein (ein Konflikt, der sich auch innerhalb der historischen Linken, zwischen Trotzki und Stalin, entspann).

Die utilitaristische Logik indes, gleichsam das Medium, ist auf beiden Seiten identisch: Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Gewalt legitimiert Badiou sogar auf teils drastischere Weise als so manche Neurechte – sie wird universell. Da es keine Botschaft ohne Medium und kein Medium ohne Botschaft gibt, müssen auch die realen, lebensweltlichen Konsequenzen beider Positionen ähnlich oder dieselben sein.

Christian Kupke hat die populistischen, alleine schon in intellektueller Hinsicht unredlichen Thesen und Begriffe Badious 2016 in einer Reihe lesenswerter Aufsätze präzise untersucht und bewertet: "So wie wir uns über [den Rechtspopulisten] Elsässer belustigen und entsetzen, wanken wir in die Seminare von Badiou und las­sen uns, im­mer noch nicht jünger gewor­den, von den vertrau­ten Schemen sei­ner Worte einlul­len: Kom­mu­nis­­mus vs. Fa­schismus, Wahrheit vs. Ideologie usw. usf. – Aber ja doch, aber ja! Nie war die Welt so klar wie zu Zeiten dieses – alten, binären, schwarz-weiß malenden – La­ger­den­kens." Gewalt beginnt, wie Eric Voegelin richtig bemerkte, immer in und mit der Sprache. Bei Badiou gerät das Mannigfaltige – ja, auch das der Kapitalismen – unter die Räder des Einen (zur Kritik des Einen s. u.a. Gerald Raunigs Dividuum). In Zürich tönte das so: "Entweder Kapitalismus mit Rasse und Nation oder Kommunismus mit Universalität der menschlichen Existenz." (1:02:00) Theorie als Theologie. Artig beklatscht. Kein Wort davon, dass gerade auch der Rassismus auf binären Entgegensetzungen basiert.

Wo waren die KritikerInnen der Gewalt, des Populismus, des Totalitären, des Universalismus und der Ideologie, als Alain Badiou in Zürich auftrat? Wo waren die mit Blick auf "Die Neue Avantgarde" so vehement eingeforderten "Gegenpositionen" auf dem Podium? Wo war der Skandal ob einer vorgeblich erlöserischen, in der Konsequenz aber menschenverachtenden Philosophie, in welcher das spekulative Schicksal des großen Ganzen dem konkreten Schicksal der Einzelnen übergeordnet ist?

Im besten Fall steht zu befürchten, dass in diesem Fall ganz einfach das galt, was man in der Reagan-Administration über Saddam Hussein zu sagen pflegte: "Wir wussten, dass Saddam ein Schurke war. Aber er war unser Schurke."

Im schlimmsten Fall, dass der Schurke gar nicht erst als Schurke wahrgenommen wurde.