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Kolumne "Die Kunst und alles andere"

Veröffentlicht am 03.08.2020

Seit 2018 bin ich Kolumnist der Stuttgarter Zeitung. Im Abstand von jeweils einem Jahr veröffentliche ich die monatlichen Kurzessays auf meinem Blog.

Ein Hoch auf die Sekundärtugenden

Über die richtige Gesinnung wird derzeit überall intensiv gestritten. Die Bedeutung kleinerer Gaben wie Respekt und Augenmaß wird dabei aber sträflich übersehen.  

Allerorten geht es wieder um die großen Fragen. Um Weltordnung, Klimarettung, Identität, Religion, Freiheit, Gleichstellung. Je größer die Herausforderungen, desto lauter werden die Rufe nach den höchsten Tugenden. Vor allem in der Netzöffentlichkeit vernimmt man Stimmen, die sich als eine Art Tugendprüfstelle zu profilieren versuchen und ihre Zeitgenossen einem Edelmut-Screening unterziehen.

Hier soll jedoch nicht vom irreführenden und polemischen Begriff des "Tugendterrors" die Rede sein. Sondern davon, dass sich die Debatten unserer Tage fast nur um Primärtugenden drehen: um die richtige Haltung, die richtige Identität, die richtige Ideologie. Aus dem Blick gerät eine Tugend, die nicht alles ist, ohne die aber alles nichts ist – die Sekundärtugend.

Ein Lob der Sekundärtugend anzustimmen, scheint angesichts der gewaltigen Umbrüche, vor denen das 21. Jahrhundert steht, wie der ultimative Ausdruck von Spießertum und Weltflucht. Ist die Digitalisierung mit Geduld zu meistern? Lässt sich die Renaissance faschistischer Ideologie etwa mit Pünktlichkeit bekämpfen? Von Oskar Lafontaine stammt die Feststellung, mit Sekundärtugenden wie Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit und Standhaftigkeit könne man "auch ein KZ betreiben". Das ist so zutreffend wie redundant und niederträchtig. Es trifft zu, dass man mit Sekundärtugenden sowohl Gutes als auch Böses tun kann – wie man auch mit einem Auto Menschen zum Notarzt fahren oder in eine Menschenmenge rasen kann. Der eigentliche Punkt ist, dass Primärtugenden ohne Sekundärtugenden bloße Schimärtugenden bleiben.

Wer versucht, Gerechtigkeit ohne Standhaftigkeit zu schaffen, Ideale ohne Machbarkeitsprüfung umzusetzen oder Demokratie ohne Pflichtgefühl gegenüber den Wählern zu betreiben, wird scheitern. Wer Wandel zum Besseren verspricht, aber auf Sekundärtugenden wie Respekt, Anstand, Augenmaß und Präzision pfeift, begibt sich auf Trump'sche Pfade. Wer das hehre Ziel umfassender Gerechtigkeit beschwört, doch alleine schon die "Verfahrensgerechtigkeit" (John Rawls) nicht achtet, ist eine gefährliche Träumerin. Wenn Vorverurteilungen in den Medien zur Normalität gehören, wenn Politiker sich Wissenschaft je nach Weltanschauung zurechtbiegen und Identität über Integrität gestellt wird, ist ein Lob der Sekundärtugend nicht nur eine Option, sondern ein Muss. An ihrem vordergründig langweiligen, spießigen Charakter scheidet sich die idealistische Spreu vom Weizen der Verantwortung. In der Schweiz wirbt eine Kleinpartei derzeit mit dem Slogan "langweilig, aber gut." Dass sie klein geblieben ist, sollte zu denken geben.