Ihre Browserversion ist veraltet. Wir empfehlen, Ihren Browser auf die neueste Version zu aktualisieren.

Kolumne "Die Kunst und alles andere"

Veröffentlicht am 31.12.2019

Seit 2018 bin ich Kolumnist der Stuttgarter Zeitung. Im Abstand von jeweils einem Jahr veröffentliche ich die monatlichen Kurzessays auf meinem Blog.

Am Ende des Jahres möchte ich eine frohe Botschaft an unsere männlichen Leser überbringen. "Männer", Sie erinnern sich? Dieses einstmals starke, sich Ozeane und Kontinente untertan machende, Drachen bezwingende und Bomben bauende, neuerdings jedoch kollektiv verunsicherte, von epochalen Identitätskrisen gebeutelte, ja womöglich vom Aussterben bedrohte Geschlecht? Diese zerrissenen Wesen, die trotz monumentaler Vollbärte zum Ausfüllen von Excel-Tabellen verdammt sind und zwischen Mixed-Martial-Arts-Training und Windelwechsel noch zur Burnout-Therapie müssen? Genau: Männer.

Was sich wie ein Niedergang ausnimmt, ist in Wahrheit eine Chance. Ja, mehr noch – dem Mann stehen großartige Zeiten bevor. Seine Geschichte, so meine Prognose, wird dieselbe Wendung nehmen wie die der modernen Kunst. Um 1800 war auch diese in eine Identitätskrise geraten. Ihre Auftraggeber, Adel und Kirche, brachen weg. Die Kunst stolperte auf dem freien Markt herum und wusste nicht mehr, wer sie war. Die Glorie alter Tage schien zu verpuffen. Der Philosoph G. W. F. Hegel dozierte indes: "In dieser Weise steht dem Künstler, dessen Talent und Genie für sich von der früheren Beschränkung auf eine bestimmte Kunstform befreit ist, jetzt jede Form wie jeder Stoff zu Dienst und zu Gebot." Hellsichtig erkannte er, dass die Kunst zwar keine herausragende Rolle mehr spielte, aber an Freiheit gewonnen hatte. Weil ihr nicht mehr per se die höchsten Aufgaben zukamen, konnte sie kühne Experimente wagen. Genau das führte zur Revolution der Avantgarden um 1900, von der die Kunst bis heute zehrt und die sie zu einer globalen Erfolgsstory hat werden lassen.

Mit dem Mann wird es sich genau so verhalten. Die bisherigen Identitätsangebote waren dröge und überschaubar – Chuck Norris, Papst, Einstein, lieber Trottel. Nun weitet sich das Feld. Mit einem leicht abgewandelten Hegel-Satz über Kunst gilt: "Das Gebundensein an einen besonderen Gehalt und eine nur für diesen Stoff passende Art der Darstellung ist für den heutigen Mann etwas Vergangenes." Vom Joch der Stereotype befreit, wird der Mann zum Avantgardisten avancieren. Paradoxerweise dürfte davon sogar die stereotype Männlichkeit profitieren. Denn wenn der Status des Mannes nicht mehr gottgegeben ist, muss er errungen werden. Herausforderung! Wettbewerb! War es nicht das, was Jungs immer wollten? Wie ein Künstler, der uns von seinem vordergründig sinnlosen Meisterwerk "Grüne Kreise, Tupfgeschwader" überzeugen will, muss sich der Mann nun auf kreative Art begründen und beweisen. So wird er an Stärke und Raffinesse gewinnen. In diesem Sinne – auf 2019!