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Wenn die Natur die Naturwissenschaften leugnet – was ich von osteuropäischen Stechmücken über das Anthropozän, den Sozialkonstruktivismus und die Identitätspolitik lernte

Veröffentlicht am 10.08.2018

Da ich mich in den Sommermonaten häufig in mückenlastigen Gegenden aufhalte, erwarb ich vor kurzem ein sensationelles High-Tech-Produkt: ein schick designtes Armband, das ein schwaches elektromagnetisches Feld erzeugt. Dieses Feld, so der Hersteller euphorisch, gleiche den atmosphärischen Entladungen während eines Gewitters. Und da Stechmücken während eines ebensolchen nicht zu arbeiten pflegten, sei man, endlich, ganz ohne chemische Keulen, vor ihren leidigen Attacken gefeit.

Die Vorstellung gefiel mir, ja sie stimmte mich erhaben. Vor meinem inneren Auge sah ich mich am Waldesrande sitzen, unter der Glocke einer künstlichen Gewitteratmosphäre, an deren unsichtbarer Oberfläche das Geschmeis abprallte.

Besser geht es nicht, sagte ich mir: Du erlebst die Natur unmittelbar, bist Teil von ihr, weidest dich an ihrer Ästhetik und lässt dich von ihr zu schriftstellerischen Höchstleistungen inspirieren, während du gleichzeitig vor dem Kollateralschaden des Juckreizes verschont wirst. Hätte Humboldt das doch erleben dürfen!

Indes, alles kam anders, als gedacht. Die Mücken der seenreichen osteuropäischen Waldlandschaft, in welcher ich den August zu verbringen pflege, erwiesen sich als indifferent gegenüber dem technischen Fortschritt. Sie steuerten zielstrebig das sacht blinkende Bändchen an und versenkten ihren Rüssel in nächster Nähe oder sonstwo in meiner Haut, wie es ihnen eben beliebte (siehe Video).

Nun dämmerte mir, dass diese ländlich aufgewachsenen, mit den jüngsten Diskursen nicht vertrauten Tiere möglicherweise das Anthropozän verschlafen haben könnten. Die menschgemachte Evolution spielte für sie jedenfalls keine Rolle. Sie stachen, wie sie es seit Jahrtausenden tun: Haut, Rüssel, fertig. Die Exo-Evolution an meinem Handgelenk nahmen sie flügelzuckend zur Kenntnis, aber nicht Ernst.

Mit Schrecken musste ich feststellen, dass nicht nur im Trump-Lager Wissenschaftsfeindlichkeit herrscht. Die Mücken foutierten sich nicht nur um die Anthropozän-These, sondern auch um empirisch untermauerte naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse: Mücken stechen bei Gewitteratmosphäre nicht, bleiben zuhause, haben keinen Appetit. Durch Experimente erwiesen! Wenn nun sogar die Natur die Naturwissenschaften ignoriert – wo soll das noch hinführen?

Zum Glück hatte ich eine andere Erklärung parat: Identitätspolitik und Sozialkonstruktivismus! Der schweizerische Hersteller des Armbands hatte dieses vermutlich an gewissenhaften schweizerischen Mücken getestet; womöglich ja an solchen, die in der Umgebung der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich geschlüpft und entsprechend sozialisiert worden waren.

Da im 21. Jahrhundert jedes Wesen eine eigene, einzigartige, mit allen anderen Identitäten inkommensurable Identität beansprucht und gleichsam unter deren künstlich erzeugter – sozial konstruierter! – Glocke lebt, lassen sich die Ergebnisse von Experimenten mit szientistisch-positivistischen schweizerischen Mücken nicht so einfach auf rebellisch-mystisch veranlagte Exemplare aus Osteuropa übertragen.

Vielleicht aber weist die Unternehmenskultur des Herstellers auch Defizite auf, was Geschlechter- und Genderpolitik betrifft. Eventuell führte er seine Tests ja mit männlichen Mücken durch, ignorierte die Gebote der Gleichstellung. In der Familie der Culicidae ernähren sich nur die Weibchen von Blut.[1]

Last but not least sind Stechmücken vielleicht einfach wie Menschen: Wenn sie wirklich Appetit haben, stellen sie die Befürchtung, nass oder vom Blitz erschlagen zu werden, hintan. Sie wägen ab, treffen Entscheidungen, gerne auch irrationale.

Das Band trage ich trotzdem mit Freude und bereue den Kauf in keiner Sekunde. Tagtäglich erinnert es mich daran: Mit deiner geisteswissenschaftlichen Profession hast du alles richtig gemacht. Die Technik wird uns nicht retten.



[1] Was selbstverständlich keine biologischen, sondern gesellschaftliche Gründe hat.