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Baukasten zu einer Apologie des Konsums

Veröffentlicht am 06.01.2022

Eine Futurologie des Konsums oder des Konsumismus' sollte sich vor Augen führen, welche Hoffnungen auf dem Konsum in der Vergangenheit ruhten. Wird Konsum nur als Bedrohung für die Umwelt betrachtet, geraten die Gründe für die Entstehung der Konsumgesellschaften aus dem Blick. Mit Hans Magnus Enzensberger gesprochen, beruht der Massenkonsum auf realen und legitimen Bedürfnissen, die physiologisch im Menschen verwurzelt sind. Die Konsumkultur stellt nicht nur ein ökologisches Problem dar, vielmehr ist sie selbst ein Ökosystem.

Konsum hat ein Imageproblem. Es sind die unstillbaren "Begehrnisse" (Hartmut Böhme) des westlich-modernen Subjekts, die überhaupt erst zur sich abzeichnenden Klimakatastrophe wie zur allgemeinen Verschandelung des Planeten geführt haben. So zumindest lautet eine derzeit in den Medienp rominentvertretene These aus der Umweltbewegung und der Degrowth-Szene. Mehr noch, das konsumistische Luxusleben im Westen sei möglich nur durch die Unterdrückung und Ausbeutung der restlichen Welt, hört man von Vertretern der Postcolonial Studies. Von entgegengesetzter Seite, also von rechts, wird der Konsumbürger indes als effeminierter letzter Mensch ohne höhere Ziele als Shopping verächtlich gemacht. Man wünscht sich den heroischen Menschen zurück, der bereit ist, Opfer zu bringen – für Gott, traditionelle Werte, Vaterland im Speziellen und Abendland im Allgemeinen. Wellness, Yoga, Intimrasurset, Mindfulness und Spirulina-Papaya-Camu-Camu-Vanille-Smoothies sind demzufolge nur Ausdruck materialistisch-individualistischer Dekadenz. Derweil tun ausgerechnet jene Konzerne, die massgeblich den zynischen Boom von Fast Fashion verursacht haben, mit Greenwashing ihr Bestes, den Ruf des Konsums nochtiefer in den Schmutz zu ziehen. Ihre Wendehalsigkeiterinnert an die bei politischen Systemwechseln verlässlich auftretenden wundersamen Verwandlungen, wenn beispielsweise tausende von Sozialisten plötzlich herausfinden, dass sie eigentlich seit jeher als regimekritische Demokraten im Widerstand gewesen waren. Helden treten immer dann in Scharen auf, wenn es keinen Heldenmut erfordert. Man hängt sein Fähnchen in den Wind. Und ist er grün, nun, dann ist er eben grün.

Dabei war es um das Ansehen des Konsums nicht immer so schlecht bestellt. Zwar musste er schon im 19. Jahrhundert von Konservativen wie auch Progressiven aus den oben genannten Gründen einstecken. Aber er stand auch für Fortschritt. Für ein besseres Leben. Und sogar für den Frieden. Es ist noch gar nicht so lange her, da verfasste der Medientheoretiker Norbert Bolz eine Ode an den Konsumismus (Bolz 2002). Sein 2002 erschienenes Konsumistisches Manifest war eine Antwort auf die Terroranschläge des elften Septembers 2001. Die Hauptaussage von Bolz' polemischem Essay lautet, Konsumismus stelle eine Alternative zum Fundamentalismus dar. Damit geht er weit über die differenzierten, kulturoptimistischen Analysen der Konsumkultur etwa von Wolfgang Ullrich hinaus. (Ullrich 2006) Als selbsterklärter Konservativer aktualisiert Bolz, der heute sein aufmerksamkeitsökonomisches Gnadenbrot als dampftwitternder Reaktionär verdient, die Thesen des Ökonomen Joseph Schumpeter, demzufolge wirtschaftlicher Wettbewerb in der Lage sei, kriegerischen Wettbewerb zu sublimieren. Die sich ansonsten in Krieg und Terror entladende Aggression könne durch Wettbewerb einerseits, durch Wohlstand ermöglichte Kultur und Freizeit andererseits kanalisiert und gemildert werden. Wer konsumieren kann, dem geht es materiell gut, und wem es materiell gut geht, wird sich hüten, seinen Wohlstand durch Kriege zu gefährden.

Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama nahm Bolz' Sicht auf die konsumistische Sache in den frühen 1990er Jahren vorweg, als er in seinem Buch The End of History or the Last Man behauptete, liberaldemokratisch-kapitalistische westliche Gesellschaften seien für gewöhnlich friedliebend, da sie ihren hohen Lebensstandard nicht durch Kriege gefährden wollten: "The anarchic state system of liberal Europe does not foster distrust and insecurity because most European states understand each other too well. They know that their neighbors are too self-indulgent and consumerist to risk death, full of entrepreneurs and managers but lacking in princes or demagoges whose ambitions alone are sufficient to start wars.“(Fukuyama 2006, 265)

Fukuyamas Buch zählt zu den vermutlich am meisten zitierten und am wenigsten gelesenen Debattenwerken der jüngeren Vergangenheit. Im deutschsprachigen Raum diskutierte man hitzig darüber, ob die Geschichte tatsächlich ans "Ende" gekommen sei und schoss sich dabei auf den Buchtitel ein. Viele übersahen, dass "End" im Englischen sowohl "Ende" als auch "Zweck" bedeuten kann. Mit dieser Mehrdeutigkeit spielte Fukuyama, der in einer eigenwilligen Re-Lektüre der Platon'schen Anthropologie postulierte, die Trias Liberalismus, Kapitalismus, Demokratie entspräche den Bedürfnissen – oder sind es Begehrnisse? – der menschlichen Seele am ehesten, da sie Vernunft, Distinktion wie auch Genuss befriedige.

Schon ein Zeitgenosse Platons, der Komödiendichter Aristophanes, konstruierte einen Zusammenhang zwischen einer friedlichen Existenz und Konsum in seinem Bühnenwerk Der Frieden (Eirene), uraufgeführt 421 v. Chr. im Dinonysostheater nahe der Akropolis. Gerade heute, in Zeiten von Culture Wars und handfesteren Konflikten, ist das Stück für tagesaktuelle Debatten wiederentdeckenswert.Natürlich verwendet Aristophanes darin nicht die Begriffe "Konsum"und "Konsumismus". Aber das, was er in seiner Komödie thematisierte, hat viel mit dem Nexus von Konsum und Frieden zu tun. Anders als Bolz beging Aristophanes nicht den Fehler, Konsum als Bedingung des Friedens zu deuten. Vielmehr erscheint Konsum in seinem Text als Ausdruck einer befriedeten Existenz.

Auf einem Mistkäfer lässt Aristophanes den Winzer Trygaios zum Olymp reiten, um Zeus zu überreden, den athenisch-spartanischen Krieg zu beenden. Nicht, weil Trygaios ein hochstehendes moralisches Problem mit dem Krieg hätte. Er trägt keine elaborierte pazifistische Theorie vor. Er bedarf auch keines religiösen Jargons. Den sinnenfreudigen Verfechter friedliebender Dekadenz stört vielmehr, dass der Krieg unmöglich macht, was immer erst dann am schönsten erscheint, wenn es verloren ist: die Früchte des Lebens ernten und genüsslich konsumieren können. Genau diese Lust am sinnlichen Leben, vom Schlemmen über das Saufen bis hin zum Vögeln, preist Trygaios als Alternative zum blutigen Ernst kriegerischer Schlachten und der sie befeuernden politischen Machtspiele. Dafür müssten aber Schwerter in Pflugscharen, oder, wie es in der dritten Szene heisst, Rüstungen in Kloschüsseln verwandelt werden. (Aristophanes 1989, 75) In der ersten Szene frohlockt der Chor schon: "Glücklich bin ich, und ich freu mich, selig furze ich und lache, denn die Rüstung werd ich lieber als mein hohes Alter los." Trygaios aber mahnt:

"Nur sich nicht zu früh gefreut jetzt, denn es ist noch gar nichts sicher!

Erst wenn wir sie wirklich haben [die Göttin des Friedens], könnt ihr euch von Herzen freuen –

und rufen und lachen

und fahren und bleiben

und vögeln und schlafen

und festen und gaffen

und saufen und spielen,

das könnt ihr dann tun,

dann schreit auch hurra!" (ebd., 25)

Exzessiver Ding- und Selbstgenuss erscheint bei Aristophanes nicht wie im die Klimakatastrophe fürchtenden 21. Jahrhundert, in der linken Entfremdungs- oder in der rechten Dekadenzkritik als verwerflich, sondern impliziert vielmehr eine sinnlich-physiologische Ethik. "Süß wie Parfüm" ist die Demobilisierung, nach "Saurezwiebelnrülpsen"aber riecht der Krieg. Der Frieden bringt "Arien des Sophokles und Hähnchen", der Krieg trägt eine "Notration" im blutbeschmierten Tornister: (ebd., 36)

"Erinnert euch, Männer,

ans Leben von früher,

als sie noch regierte [die Göttin des Friedens, Anm. d. A.],

an Kuchen mit Früchten,

an Feigen und Myrten,

an Most aus der Presse,

an Blumen am Brunnen,

Oliven in Hainen,

wie wir sie uns wünschen." (Ebd., 38–39)

Frieden, das ist bei Aristophanes ein Supermarkt avant le supermarché, idealerweise mit angegliedertem Theater. Konsum ist ein Schlaraffenland, in dem sich eine Utopie abzeichnet, die erst im 20. Jahrhundert für hoch entwickelte Industrieländer zumindest teilweise Realität werden sollte – für Länder also, in denen beispielsweise das rare Gut Fleisch zu einem alltäglichen Bestandteil der Speisekarte werden sollte oder in denen selbst arme Menschen die Möglichkeiten bekommen sollten, aus einem vergleichsweise breiten Sortiment von Waren auswählen zu können.

In Zeiten, da die politische Linke noch nicht die Dialektik gegen die Moral eingetauscht hatte, sondern letztere durch erstere in Gang gesetzt sehen wollte, gab es durchaus linke Stimmen, die dem Konsumismus etwas abgewinnen konnten. So schrieb der unorthodoxe Linke Hans Magnus Enzensberger 1970 in seinem Essay Baukasten zu einer Theorie der Medien: "Die Anziehungskraft des Massenkonsums beruht … nicht auf dem Oktroi falscher, sondern auf der Verfälschung und Ausbeutung ganz realer und legitimer Bedürfnisse, ohne die der parasitäre Prozeß der Reklame hinfällig wäre. Eine sozialistische Bewegung hat diese Bedürfnisse nicht zu denunzieren, sondern ernst zu nehmen, zu erforschen und politisch produktiv zu machen." (Enzensberger 1970) Der Massenkonsum verspreche, allen obszönen Zügen zum Trotz, "das Verschwinden des Mangels". (Ebd.) In ihm zeige sich "das Verlangen nach einer neuen Ökologie, nach einer Entgrenzung der Umwelt, nach einer Ästhetik, die sich nicht auf die Sphäre des 'Kunstschönen' beschränkt. Diese Wünsche sind nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, verinnerlichte Spielregeln des kapitalistischen Systems. Sie sind physiologisch verwurzelt und lassen sich nicht mehr unterdrücken. Die Schaustellung des Konsums ist eine parodistische Vorwegnahme einer utopischen Situation." (Ebd.)

Es ist vielsagend, dass Enzensberger den Begriff "Ökologie" verwendet. Wenn von der Zukunft des Konsums die Rede ist, sollte dieser Aspekt des Konsumismus gerade aus ökologischer Sicht immer mitgedacht werden. Die Fokussierung auf Gefahren für das Überleben der Menschheit läuft Gefahr, das Leben der Menschheit zu übersehen.

 

Aristophanes (1989).Der Frieden. Stuttgart: Reclam.

Enzensberger,Hans Magnus (1970). "Baukasten zu einer Theorie der Medien".In: Kursbuch 20, S. 159–186. Abgerufen von: https://www.uni-due.de/~bj0063/doc/enzensberger.pdf.

Fukuyama, Francis (2006).The End of History and the Last Man. New York: Free Press.

Ullrich, Wolfgang (2006). Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur?Frankfurt am Main: S. Fischer.