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Die neue Avantgarde – Rückblick auf ein Podium, das nicht stattfand

Veröffentlicht am 14.03.2017

In loser Folge werde ich mir auf meinem Blog Gedanken zu einigen Begriffen machen, die in der Kontroverse um das abgesagte Podium "Die Neue Avantgarde" eine zentrale Rolle spielten. Naheliegender Auftakt: "Avantgarde".

Avantgarde

 

Die Reaktionen auf das "Die Neue Avantgarde" betitelte Podium kamen wie aus der Pistole geschossen: Wie könne man es wagen, die Neuen Rechten als "Avantgarde" zu bezeichnen, sie aufzuwerten, ihrer Selbstinszenierung auf den Leim zu gehen!

Seltsam, dass man plötzlich den Avantgardebegriff als Gütesiegel zurückhaben wollte. Eigentlich war der doch längst, und zwar völlig zurecht, durch den Häcksler postmoderner Dekonstruktion gedreht worden. Schwaches Denken und so, erinnert sich wer dran? Und nun sollte er wieder in alter Pracht auferstehen?

Die Kontroverse zeigt, dass die KritikerInnen des Podiums glauben, zum einen über ein Monopol auf den Begriff "Avantgarde" zu verfügen, zum anderen, dass "Avantgarde" ein semantisch eindeutiger Begriff sei. "Avantgarde" ist für sie etwas gutes und erstrebenswertes. Und weil die AfD aus ihrer Sicht nicht gut und erstrebenswert ist, kann sie nicht Avantgarde sein. Wie einfach die Welt doch manchmal ist.

Einige gingen soweit, den historischen Kern der Avantgarde als "kommunistische Utopie" zu definieren – ein ihrem Verständnis nach offenbar unproblematischer, ja positiv besetzter Begriff. Das ist nichts Geringeres als Geschichtsklitterung und Kotau vor dem Post- oder eher noch Präfaktischen: Wir machen uns die Avantgarde, widde-widde wie sie uns gefällt. Was also war die Avantgarde?

Die Avantgarde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war kein Stelldichein der Guten und Gerechten. Sie führte zu einer wahren, historisch einmaligen Explosion der Ästhetiken und Ideen, wovon ebenso viele faszinierend, mutig und inspirierend waren wie andere krude, widersprüchlich, brutal, wirr, chaotisch und esoterisch. Mitunter war sie auch banal und populistisch, sensationslüstern und albern – dass Kasimir Malewitschs zum "Nullpunkt der Malerei" verklärtes Schwarzes Quadrat auf weißem Grund (1915) einen Vorläufer in Alphonse Allais' zotigem Gemälde Schlacht von Schwarzen in einer dunklen Höhle (1882) hat, ist nur ein Beispiel von vielen.

Avantgarde, das war die bahnbrechende Ästhetik Paul Gauguins, die auf exotistischen Südseeklischees und schwüler Kolonialerotik fußte. Avantgarde, das war der ästhetizistische Faschismus der italienischen Futuristen. Avantgarde, das war die modernistische Verquirlung ostasiatischer, vortizistischer, faschistischer und antisemitischer Einflüsse (Ezra Pound). Avantgarde, das war das Liebäugeln so mancher expressionistischer Pinselkleckser mit der NSDAP (Emil Nolde). Avantgarde, das war die Esoterik Helena Blavatskys als Inspiration der Abstraktion (Wassily Kandinsky). Avantgarde, das war das Manövrieren an den Außengrenzen des Sinns (Dada).

Dem oft radikalen und utopischen Geist der Avantgarde entsprachen auch das "Gesamtkunstwerk Stalin" (Boris Groys), der kommunistisch verbrämte Anarchoautoritarismus Maos und die fatalen Realexperimente Pol Pots. Avantgarde in der Politik bedeutet, die Welt in Analogie zu einem Kunstwerk zu begreifen: als Knetmasse genialischer Übermenschen. In diesem Sinne lässt sich sogar, aus mentalitätsgeschichtlicher Perspektive, der totalitäre, irrationale Wahn des NS-Regimes als Teil der Avantgarde deuten. Gemeinsames Kennzeichen vieler Avantgarden war es ja, den kritisch-skeptischen Blick aufs Detail, die Forderung nach Differenzierung und den Ruf nach Maßhalten als reaktionär ("bürgerlich"!) zu brandmarken, da er der Durchsetzung der großen Erlösungsprojekte im Wege stand.

Bruno Latour hat dies im Rahmen seiner "post-prometheischen Handlungstheorie" thematisiert, für welche er den – aus meiner Sicht ebenfalls problematischen – Begriff des Designs stark macht: "Eine zweite und vielleicht noch wichtigere Implikation von Design liegt in der Aufmerksamkeit für Details, die im heroischen, anmaßenden prometheischen Traum von Handlung vollständig fehlt: 'Gehe vorwärts, breche radikal mit der Vergangenheit und überlasse die Konsequenzen sich selbst!' Das war der alte Weg – bauen, konstruieren, zerstören, radikal überholen: 'Nach mir die Sintflut!' […] Neben Bescheidenheit gibt es als zweites also einen Sinn für die Bedeutung von Geschicklichkeit und Kunstfertigkeit sowie eine obsessive Aufmerksamkeit fürs Detail, die eine wichtige Konnotation von Design ausmachen. Das ist deshalb erwähnenswert, weil es undenkbar war, diese Merkmale von Design mit der revolutionären und modernisierenden Dynamik der jüngeren Vergangenheit zu verbinden." Die GegnerInnen des Podiums scheinen indes noch immer dem modernistisch-avantgardistischen Furor verpflichtet zu sein, wenn sie nichts Geringeres als "Destruktion" der Neuen Rechten fordern – anstatt "Dekonstruktion", wie Milo Rau ungleich überzeugender argumentierte.

Kurz: Der fromme Wunsch, das Avantgarde-Siegel sei Künstlern oder Politikern edelsten Geblütes vorbehalten, zeugt von gefährlicher Geschichtsblindheit und Empiriephobie. Wer heute noch wie selbstverständlich davon ausgeht, der Begriff "Avantgarde" werte das jeweils damit Bezeichnete auf, steht in der Tradition genau jenes ideologischen Wunschdenkens, das zu den Irrungen des 20. Jahrhunderts geführt hat.

Überlasst den Avantgardebegriff also ruhig den Rechten! Sollen ihre Rücken unter seinem historischen Ballast krumm und müde werden.

Bezieht man den realistischen, nüchternen, empirisch fundierten Begriff der Avantgarde auf zeitgenössische Phänomene wie die Alt-Rights oder sonstige neurechte Strömungen, so lässt sich sagen: Selbstverständlich spielt eine Partei wie die AfD aus dialektischer Sicht eine wenigstens quasi-avantgardistische Rolle im Politikbetrieb. Sie treibt das Establishment vor sich her und provoziert mit Tabubrüchen, wie es sich seit jeher für Avantgarden gehört; sie wird vom Mainstream gefürchtet; sie fordert für Deutschland neue politische Instrumente – direkte Demokratie nach schweizerischem Vorbild –; sie verquirlt Völkisches, Liberales, Autoritäres, Soziales, Nationalistisches zu einer verstörenden Mischung; ja sie hat mit Frauke Petry sogar einen neuen Politikerinnentypus im Programm: "Frau Petry ist eine neue Mischung aus Domina und Unschuld vom Lande. Da kann ich als Historiker schwer mit den Parallelen kommen und sagen: Das wird dort und dort hinführen." (Wolfgang Benz)

Das Argument, die AfD sei keine Avantgarde, weil sie nichts völlig Neues erschaffen habe, verfängt nicht. Es genügt, dass sie in einem spezifischen Kontext für Irritation sorgt und die Themen setzt. Auch die Polit-Avantgarde der Nachkriegszeit, die Grünen, waren mitnichten "Erfinder" von Ökologie und Emanzipation. Sie hoben diese vielmehr auf eine andere Stufe.

Schon in den Avantgarde-Künsten um 1900 bestand die Innovation weniger darin, etwas völlig Neues zu "erfinden", als vielmehr – siehe Duchamps Ready-mades oder Kurt Schwitters Müll-Assemblagen – im Transfer von Altbekanntem, ja Obsoletem in neue Kontexte. Entgegen trivialisierender Darstellungen wollten die meisten Avantgarden nicht radikal mit der Vergangenheit brechen. Man denke nur an Kasimir Malewitschs retromodernistische Kombination althergebrachter religiöser Bildformate mit puristischer Abstraktion und neospiritueller Esoterik. Sein Schwarzes Quadrat stellte er in die Tradition ländlicher russischer Kunst. Die Sehnsucht nach dem Ursprung und das Liebäugeln mit ruralen oder indigenen Ästhetiken war ein Merkmal vieler Avantgarden um 1900, vom Blauen Reiter über Malewitsch bis hin zum Werk Picassos.

Auf politavantgardistischer Ebene begegnet man, nach einer kurzen Phase radikalen Neuerungsglaubens in den 1910er und 20er Jahren, ähnlichen Engführungen von Fort- und Rückschritt – auch mit Blick auf den Kommunismus. In seinem lesenswerten Buch Was war der Kommunismus (2010) verweist Gerd Koenen auf die "mythischen Nationaltraditionen, die fast alle kommunistischen Potentaten intensiv bemüht haben, von Ceaucescus Dakertümelei bis zu den Angkor-Wat-Träumen der Roten Khmer. Gerade Maos späte Reden und Texte füllten sich, je mehr er die olympische Position eines sozialistischen Volkskaisers annahm, mit klassischen Referenzen und Zitaten, in merkwürdigstem Gegensatz zum vandalischen Bildersturm seiner halbwüchsigen Rotgardisten."

Vor diesem Hintergrund ließe sich die These aufstellen: Die AfD transferiert Readymades der konservativen Revolution um 1900 in die medialen Räume um 2000, wo sie eine neue, destabilisierende, durchaus disruptive Wirkung entfalten. Wie der banale Duchamp'sche Flaschentrockner im Kunstraum haben ihre Konzepte aus der Mottenkiste des Nationalismus in post- und transnationalen (Diskurs)Räumen eine andere Bedeutung als außerhalb derselben. In gewisser Hinsicht praktiziert die AfD dabei das, was Nietzsche die "Umwertung aller Werte" nannte und appropriiert fröhlich Kampfbegriffe wie "Revolution", während die Identitären sich am Erbe der 68er gütlich tun – und auf fatale Weise für junge, abenteuerlustige, konfrontationsfreudige Zielgruppen vielleicht tatsächlich eine Alternative zu den ehemals gegenbewegten, "gefährlichen" Linken darstellen. Es geht ja nicht nur um Politik. Es geht auch ums Gefühl.

So argumentierte Jan Fleischhauer kürzlich, die Vertreter der Studentenrevolution hätten teils fast identische Worte gebraucht wie heute die Neuen Rechten. Mit Blick auf ein Rudi-Dutschke-Interview aus dem Jahr 1967 schrieb er: "Wer beim Zuhören die Augen schließt, erkennt viele Parolen wieder, die heute die rechten Provokateure im Munde führen. Da ist die Schmähung der Regierungskabinette als 'institutionalisierte Lügeninstrumente', die Ablehnung des parlamentarischen Systems als manipulativ und unbrauchbar, die Verherrlichung der neuen Bewegung als eine, die 'die wirklichen Interessen der Bevölkerung' ausdrückt: 'Dem Volk wird nicht die Wahrheit gesagt.'"

Natürlich könnte man sagen: Da haben wir's! Alles nur geklaut! Die Rhetorik der Alt-Rights ist ein billiger Abklatsch! Doch zum einen lassen sich Kritiken wie jene Dutschkes ihrerseits bis auf die Rhetorik gnostischer Sekten zurückführen, zum anderen leben wir in Zeiten des Postoriginellen und der Kreativitätskritik. Polemisch gefragt: Wenn die von mir überaus verehrten Tocotronic singen "was Du auch machst, mach es nicht selbst", warum sollte die AfD es sich unnötig kompliziert machen? All das macht die Partei und ihre Brüder und Schwestern im Geiste natürlich nicht zu überzeugenden oder besonders bemerkenswerten Avantgarden. Dass aber eine biedere B-Avantgarde wie die AfD die politische Landschaft Deutschlands derart aufzumischen vermag wie es heute der Fall ist, spricht Bände über den Zustand der progressiven politischen Kräfte wie überhaupt der politischen Kultur in Deutschland und darüber hinaus.

Dabei ist die AfD nicht einmal, wie ihre GegnerInnen es sich aus Gründen aktivistischer Wellness ersehnen, ein monolithischer Block. Sie ist ein junges, dynamisches, widersprüchliches, ja chaotisches Gebilde. Wer sie mit einem seinerseits statischen, homogenisierenden Diskurs kritisiert, dient sich der Logik der angestrebten hegemonialen Macht an. In den Diskursen so mancher GegnerInnen der Neuen Rechten geht es vielfach nicht darum, Widersprüchlichkeiten herauszustellen und so die Hebelpunkte für Kritik und Agitation zu vervielfältigen. Statt dessen wird ein einziger Hebelpunkt bestimmt – Faschismus-Rassismus! – und ein Carl Schmitt'sches Freund-Feind-Szenario errichtet. In vorauseilendem Gehorsam erklärt man den Gegner zu einem Monstrum von monumentaler Geschlossenheit, Schlagkraft und Kohärenz.

Koenen erläutert, wie "die monolithische (ideologische, politische, disziplinäre) Geschlossenheit einst zu den meistgefürchteten und meistbewunderten Eigenschaften Kommunistischer Parteien" gehörte. Diese Geschlossenheit war jedoch nicht vom Himmel gefallen und konnte nur unter Aufbietung enormer, realitätsferner Kräfte, welche alle Energien absorbierten und schließlich zum Untergang des Sowjetsystems führten, aufrecht erhalten werden. Daran hatten die sich ihrerseits radikalisierenden und nach "monolithischer Geschlossenheit" strebenden Gegner durchaus ihren Anteil. Man schaukelte sich gegenseitig hoch.

Wer nun die AfD monolithisiert, leitet Wasser auf ihre Mühlen. Denn monolithische Geschlossenheit ist es, um was sie ringt. Mit Kampfbegriffen wie "ultrarechts", "rechtsextrem", "faschistisch" oder "nazistisch" verschafft man ihr eine erhabene Aura, welche den Kampf der Gegner zwar umso edler erscheinen und in apokalyptischem Glanz erstrahlen lässt, aber auch umso vergeblicher macht. Wer die AfD bekämpfen möchte, tut gut daran, keine zweite, homogene Realität zu konstruieren, sondern die heterogen-heterodoxe Parteirealität mitsamt ihrer Antinomien und autodestruktiven Potentiale zu explizieren. Wie kommt es, dass die Homosexuelle Alice Weidel im Vorstand der Partei amtet? Wie kommt es, dass der kinderlose, unverheiratete Migrant Marc Jongen für die deutsche Sprache, die Steigerung der Geburtenrate und die Förderung der traditionellen Familie kämpft? Wie kommt es, dass sich Jörg Meuthen zwar für den Ausschluss des Antisemiten Wolfgang Gedeon aus der AfD-Fraktion des baden-württembergischen Landtags stark machte, nun aber den völkischen Gernegroß Björn Höcke verteidigt? Wie verhält sich der homophobe, mit Abtreibungsgegnern besetzte Arbeitskreis Christen in der Alternative für Deutschland zum Bundesarbeitskreis Homosexuelle in der AfD, der für die Gleichstellung von Homosexuellen lobbyiert? Hier muss man ansetzen. Mit vielen Hebeln statt mit einem. Dekonstruktion statt Destruktion! Alle Versuche, die Partei zu einer geschlossenen Einheit zu formen, müssen verhindert werden – auch wenn es den Kampf um einiges komplizierter macht...