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"Zivilisation und globale Öffentlichkeit" – Exzerpte aus meinem Essay für den Band "Scripted Culture", Diaphanes, 2018

Veröffentlicht am 19.04.2018

"Digitalisierung ist mit 'Globalisierung' insofern konvergent, als es sich in beiden Fällen um Prozesse umfassender Vernetzung – physischer wie psychischer, technologischer wie kultureller, politischer wie juristischer, usf. – handelt. So sind im Zuge der Globalisierung, wie Homi K. Bhabha treffend ausführte, hybride Subjekte und Meta-Existenzweisen entstanden, während die Digitalisierung hybride Meta-Medien und -Geräte hervorbrachte. Diese vernetzen und synchronisieren vormals getrennt voneinander existierende Komponenten (Telefon, Computer, Kamera, HiFi-Anlage, Archiv, usf.) und zugehörige 'Inhalte', wie die Globalisierung Lebensstile, Politiken, Ästhetiken, Wirtschaftsordnungen, usf. vernetzt und synchronisiert. Digitalisierung löst dabei das 'analoge' Zeitalter nicht ab oder 'überwindet' es. Die postmodern konnotierte 'Verwindung' wäre ein passenderer Begriff."

 

"Im Internet wie auch der digitalen Kultur des User Generated Content im Allgemeinen kehrt aus Perspektive der KritikerInnen das als überwunden oder sublimiert Geglaubte der Modernisierungsprozesse wieder: Irrationales, Perverses, Unkontrolliertes, Wildes, Barbarei.Hassrede, Trolling, Fake News, Revenge Porn, Cybermobbing, Esoterikportale, Filterblasen, usf. Im (Kipp-)Bild bleibend erzeugt das Internet, wie damals die Neue Welt, aber auch eine Goldgräberstimmung der Freiheit, Offenheit und der Gewinnchancen – eine New Fronteer zu einer virtuellen Terra Incognita, erschaffen in Kalifornien und damit in ebenjenem Territorium, in welchem die mit der Kolonialisierung begonnene Welterschließung im geografischen Sinn zum Abschluss gekommen war. Der Cyberrausch ist der Goldrausch des 21. Jahrhunderts."

 

"Die durch Digitalisierung intensivierte und diversifizierte Kommunikation steigert jenes Unbehagen, welches Michel Foucault zufolge den Umgang des Westens – aber nicht nur des Westens – mit Diskursen prägt: 'Welche Zivilisation hat denn, allem Anschein nach, mehr als die unsrige Respekt vor dem Diskurs gehabt? Nun, mir scheint, dass sich unter dieser offensichtlichen Verehrung des Diskurses, unter dieser offenkundigen Logophilie, eine Angst verbirgt. [...] Es herrscht zweifellos in unserer Gesellschaft ... eine tiefe Logophobie …' Mitausschlaggebend für Logophobie … in der digitalen Öffentlichkeit ist die in ihr vorherrschende Polyphonie, Unübersichtlichkeit und Unkontrollierbarkeit, kurz: die Unordnung des Diskurses ('Diskursanarchie'). Einerseits verstehen sich westliche Gesellschaften als Horte der freien öffentlichen Rede, die durch Soziale Medien noch an Präsenz und Wucht gewonnen hat. Andererseits zieht gerade diese Freiheit fast unweigerlich Praktiken des Evaluierens, Observierens, Kontrollierens, Regulierens und Sanktionierens nach sich: Wo nichts öffentlich gesagt werden darf, muss auch nicht kontrolliert werden, was (nicht) öffentlich gesagt wird, sondern nur, dass nichts gesagt wird."

 

"Nationalstaaten und ihre Institutionen stossen hier zwangsläufig – und ganz buchstäblich – an ihre Grenzen. Gerade deshalb kann die in Entstehung begriffene digitale Öffentlichkeit, allen Trollhöhlen und Filterblasen zum Trotz, als Chance für ein Weltbürgertum, genauer: für eine Weltverbürgerlichung verstanden werden. Damit ist nicht der … globalistisch-homogenisierend-abstrakte 'Weltstaat' gemeint, sondern der utopische Vorschein einer transnationalen Zivilgesellschaft, die sich über geografische Schranken hinweg kommunizierend – und das heisst auch: streitend, debattierend, Konflikte offen austragend – selbst konstituiert. 'Weltverbürgerlichung' steht, wie 'Aufklärung', nicht für ein Resultat, sondern für einen unwägbaren, unabschliessbaren Prozess."

 

"Offene, unregulierte Online-Kommunikation dezentriert … das selbstmächtige Individuum und öffnet Räume des Dividuellen: Der Mythos individueller Autorschaft wird durch Kulturen der Teilung, Zerteilung und Verteilung; durch Praktiken wie Kommentieren, Faven, Disliken und Cross-Posten konterkariert. Geschlossene Chaträume oder Facebookgruppen … bieten da Alternativen; gleichsam Salons oder Freimaurerlogen in der digitalen Gegenöffentlichkeit. Denn was die einen als Befreiung aus dem Korsett des Individuums und der Identität feiern, erfüllt die anderen mit Angst und führt zu Rufen nach zivilisierenden Maßnahmen: Kontrolle, Regulierung, Überwachung, Grenzziehung, usf. Hier … scheint erneut das eingangs skizzierte Schema der Kolonialzeit auf, demzufolge die neue Welt zugleich zivilisationsbedürftige Wildnis und verheißungsvoller Freiraum war; ein Raum, in dem das Individuum seine Identität setzen oder sie, wie Mr. Kurtz in Joseph Conrads Erzählung Heart of Darkness (1899), verlieren kann. Allein, in der 'Wildnis' des Internets erblicken die Prosumenten nicht mehr das 'Andere' – sondern sich selbst als Andere."

 

Ganzer Text erschienen in: Ruedi Widmer & Ines Kleesattel (Hgg.), Scripted Culture. Kulturöffentlichkeit und Digitalisierung, Zürich: Diaphanes, 2018